„Seien Sie authentisch!“

Erste Ökumenische Akademie für Orgelimprovisation im Gottesdienst vom 11.-15. August 2019 in Hildesheim

„Mit der Improvisation ist es wie mit einer Sprache: Es gibt Muttersprachler und Menschen, die sie als Fremdsprache erlernt haben. Beides ist möglich, auch mit gutem Erfolg. Man muss wissen, was man tut. Wenn man miteinander reden will, muss man Kontrolle über die Technik der Sprache haben, sonst geht etwas schief. Inspiration und Kontrolle gemeinsam machen ein gutes Orgelstück möglich.“

1 Sietze de Vries sitzt mit der ersten seiner vier Studierendengruppen an der 1993/94 von Rudolf Janke erbauten Stilorgel in der Martin-Luther-Kirche zu Hildesheim. Es geht um Grundlagen: Choralharmonisierung mit drei Akkorden, c.f. mit 2‘ im Pedal oder mit Zunge im Tenor. Atmen und inneres Dirigieren werden mit stoischer Ruhe wiederholt, bis die Haltung verinnerlicht ist. 28 Studierende der Kirchenmusik aus 16 deutschen Hochschulen und drei fortgeschrittene Liebhaber sind auf Einladung der Evangelischen Direktorenkonferenz Kirchenmusik (dk) und der Konferenz der Leiterinnen und Leiter katholischer Kirchenmusikalischer Ausbildungsstätten (KdL) angereist, um sich rund um das Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik im historischen Michaeliskloster vier Tage lang mit Fragestellungen der Orgelimprovisation im Gottesdienst auseinanderzusetzen. Für viele von ihnen ist das Studienende in Sicht – eine Zeit, den Dingen noch einmal auf den Grund zu gehen und dies gleichzeitig kontextualisiert zu tun: im Unterricht, vor Laufpublikum im Alltag, im Gottesdienst, im Konzert. Einige der Teilnehmer wird man schon bald in Bewerbungsverfahren wiedersehen. Man spricht über Erwartungen an zukünftige Stellen, Bedürfnisse und Befürchtungen – unter sich, aber auch in der Diskussionsrunde am Abschlusstag: Großes Lob seitens der eingeladenen Diskussionsgäste für die Disziplin der Improvisation und ihre Möglichkeiten in Verkündigung und Liturgie, Abstriche bei der alltäglichen dienstlichen Kommunikation, bei der Frage nach Angemessenheit und Raum für musikalischen Ausdruck im Spannungsfeld der unterschiedlichen Dienste.

Vorgeschichte

Die Frage nach Entwicklung und Qualitätssicherung im gottesdienstlichen Orgelspiel ist nicht neu. Von 1988 – 2013 hatte die KdL insgesamt zehn Wettbewerbe an wechselnden Orten mit wechselnden Jurys mit attraktiven Preisen ausgelobt. Auch hier gewann man einen Eindruck vom akademischen Nachwuchs und seiner Kompatibilität für die Praxis. Zum Ende der Reihe hin wurden jedoch immer weniger Hauptpreise vergeben und die Teilnehmerzahlen sanken – ähnlich den Angeboten der evangelischen Schwesterkonferenz. Auf ökumenischer Konferenzebene traf man sich ab 2017 zur gemeinsamen Beratung: Sollte man ein solches Format ökumenisch neu auflegen, reformieren oder streichen? Ist das Ziel eine Leistungsschau oder eher ein Blick auf Entstehungsprozesse, Resonanzfähigkeit und Flexibilität im Umgang mit variablen Anforderungen? Die Diskutanten nahmen sich ein Beispiel an den Summer Schools diverser Studienstiftungen, skizzierten die Idee einer (Spät-) Sommerakademie und bekamen nach Zustimmung beider Leiterkonferenzen einen Planungsauftrag. Als Ort für die erste Akademie wurde Hildesheim vorgeschlagen, zur Planungsrunde gehörten Prof. David Franke (Freiburg), Kathedralmusiker Matthias Mück (Magdeburg), Prof. Hans-Jürgen Kaiser (Mainz/Fulda), Prof. Stefan Viegelahn (Frankfurt a.M.) und für die Vorstände der Konferenzen sowie die Gastgeber in Bistum und Landeskirche Dommusikdirektor Thomas Viezens bzw. Landeskirchenmusikdirektor Hans-Joachim Rolf (Hildesheim) sowie Norbert Hoppermann (Hamburg). Als Dozenten sagten Christiane Michel-Ostertun (Herford), Sietze de Vries (Groningen), Franz Danksagmüller (Lübeck) und Nico Miller (Hannover) zu.

Die endgültige Form

  • Teilnehmende und Lehrende arbeiten, essen und schlafen gemeinsam im Michaeliskloster.
  • Tägliches ökumenisches Morgengebet – die Orgel schweigt. Jeder hat Zeit für sich. Man singt mehrstimmig, atmet achtsam und hört.
  • Rotierenden Unterrichtsphasen in Achtergruppen
  • Vier Abendveranstaltungen mit teils öffentlichen Präsentationen
  • Gebetszeiten/Gottesdienste am Mittag/Abend, von Akademieteilnehmenden an der Orgel gestaltet
  • St. Andreaskirche (Nähe Fußgängerzone) als „Schaufenster“ für die Menschen in der Stadt: öffentliches Spiel der Teilnehmenden im Halbstundentakt.
  • Impulsvortrag zu Beginn und eine Abschlussdiskussion am Ende der Tage
  • Übezeiten in den Kirchen und im Haus nach Verfügbarkeit

Erlernbare Vielfalt

Christiane Michel-Ostertuns Gruppe arbeitet an der Woehl-Orgel von St. Michaelis. Sie setzt auf die Erlernbarkeit von Stilen, Formen und Techniken und kann auf ihre zahlreichen Publikationen verweisen. Es geht um Tricks in der Stimmführung, die kritische Beurteilung durch das Ohr, um Abrufbarkeit. Auch der kollegiale Austausch bleibt ein probates Mittel zur Weiterentwicklung, wenn Kurse und Seminare nicht greifbar sind. „Als Kirchenmusiker ist man oft Einzelkämpfer. Jeder wird Zeit seines Lebens Stärken und Schwächen haben. Seinen Sie mit anderen im Gespräch, statt jahrelang alles alleine durchzuziehen, und erinnern Sie sich an den Schub, den Sie in Hildesheim erlebt haben. Bleiben Sie auf der Spur, tun Sie sich zusammen“²

Stilistische Vielfalt als Lernfeld für Offenheit

Durch das Schiff St. Magdalenen hört man währenddessen lateinamerikanische Patterns – die Gruppe von Nico Miller ist an den Vorarbeiten für die Begleitung von „Du bist heilig, du bringst Heil“. Miller sieht die Auseinandersetzung mit populären Stilelementen nicht als getrennte Disziplin. Der Blick über den Tellerrand bewahre die Offenheit für die vielfältigen Realitäten und Wünsche aus den Gemeinden. Beobachtung des Autors: Durch den Nachweis, dass auch popularmusikalisches Repertoire auf der Orgel gelingen kann, lösen sich vermeintliche Gegenwelten auf, es geht wieder um das Repertoire des Gemeindegesangs als Ganzes und die Frage nach adäquater Führung und Begleitung, um Grundfragen an Geschmack, Qualität und Praxistauglichkeit.

Stummfilm und elektronische Musik als Übungsfeld für andere Zugänge zu Klang und Raum

Im Dom nutzt Franz Danksagmüller die große Orgelanlage auf mehrfache Weise: Der elektrische Generalspieltisch ist mit einem Sinua®-System ausgestattet, das u.a. farbige Intervallkoppeleffekte ermöglicht. Zusätzlich steuert er über MIDI elektronische Klänge über die Spieltischklaviaturen, aber auch über eine Linnstrument®-Bedienoberfläche an. Orgel und digitale Klangflächen verschmelzen und erweitern die Ausdruckspalette. Die Begleitung von Stummfilmsequenzen öffnet nicht nur Zugänge zu einem kulturellen Third Space, der Projektionsfläche für religiöse Abbildungen liefert, sondern stärkt auch die Kompetenz im liturgischen Spiel bezüglich der Treffsicherheit bei Spannungsverläufen, Farbwahl und tonaler Flexibilität. Es gelingt, wenn erkennbare musikalische Eigenständigkeit der Spielenden und inszenatorische Stimmigkeit in Bezug auf das Ganze zusammentreffen.
„Seien Sie authentisch! Große Musiker haben ihr Leben lang um ihren eigenen Stil gerungen, um die Intensität. In Ihnen steckt sehr viel Potenzial. Hören Sie nie auf zu lernen. Hören Sie nie auf, Ihre eigenen Positionen zu hinterfragen.“²

Die Gruppe wächst über sich hinaus

Der letzte Abend wurde besonders: Eigeninitiativ wandelten die Teilnehmenden das Ende des Abendprogramms zu einer kleinen Chorwerkstatt um. Mit Orgel oder a cappella ersangen sie sich den Kirchenraum – eine besondere und sehr dichte Stimmung.
Im Sinne eines Arbeitsergebnisses lässt sich auf eine große Zahl individueller guter bis sehr guter professioneller Leistungen verweisen. Diese entsprechen Ausbildungsstandards einerseits, zeigen aber auch ein hohes Maß an Kommunikations- und Teamfähigkeit, Kreativität und Gestaltungskraft. Ich habe Persönlichkeiten erlebt, die eine Bereicherung für Gemeinden und deren Sozialräume sein können – offen für Veränderungen, die in den beiden ausrichtenden Kirchen anstehen. Darum ein besonderer Dank an die Kolleg_innen beider Konferenzen für das Vertrauen in diese Idee und die beiden Hauptförderer, den ACV und die Gesellschaft der Orgelfreunde, für ihre finanzielle und mediale Unterstützung. Eine Dokumentation in Ton und Bild finden Sie unter www.kirchenmusik-studium.de .

Norbert Hoppermann

1Mitschrift aus einem Besuch in der Arbeitsgruppe am 13.08.2019
²aus dem Klangprotokoll der Diskussion am 15.08.2019

Akademie für Orgelimprovisation 2019 Doku Teil 1
Akademie für Orgelimprovisation 2019 Doku Teil 2
Akademie für Orgelimprovisation 2019 Doku Teil 3
Akademie für Orgelimprovisation 2019 Doku Teil 4
Akademie für Orgelimprovisation 2019 Doku Teil 5